Seit mittlerweile 127 Jahren lockt die Biennale di Venezia Reiselustige und Kunstliebhaber*innen in die Lagunenstadt. Nachdem Corona der Austragung letztes Jahr einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, sorgte dieses Jahr der Krieg in der Ukraine im Vorfeld für Diskussionen. Während die Kunstschaffenden Kirill Savchenkov und Alexandra Sukhareva, die den russischen Pavillon hätten bespielen sollen, ihre Teilnahme (aufgrund der Unvereinbarkeit des Schreckens der Kriegsgeschehnisse mit der Betrachtung von Kunstwerken) abgesagt haben, gelang es der Kuratorin des ukrainischen Pavillons, Kateryna Chueva, das Kunstwerk des für die Ukraine teilnehmenden Künstlers Pavlo Makov unbeschadet nach Venedig zu transportieren. Für Makov, dessen Heimatstadt Charkiv in Trümmern liegt, ein wichtiger Schritt für die Wahrnehmung der Ukraine als Nation. Die Installation, die die Erschöpfung der Menschheit symbolisiert, ist noch bis Ende November gemeinsam mit zahlreichen anderen Arbeiten bei der prestigeträchtigen Kunstausstellung zu sehen.

Allein insgesamt 213 Künstler*innen aus 58 Ländern (die die einzelnen in den Länderpavillons vertretenen Kunstschaffenden nicht mitgerechnet) wurden für die große kuratierte Hauptschau von der diesjährigen Kuratorin Cecilia Alemani eingeladen. Die ausgestellten Arbeiten sollen einem Überblick über das internationale Kunstschaffen geben und regen nicht zuletzt dazu an, über den Zustand unserer Welt nachzudenken. Im Mittelpunkt der im Hauptpavillon in den Giardini und im Arsenale ausgetragen Schau stehen heuer Fragen wie: was begründet Leben? Wie verändert sich die Definition des Menschen? Und welche Verantwortung tragen wir im Umgang mit unserem Planeten sowie den ihn bevölkernden Lebewesen?

The Milk of Dreams

Dass es dabei mitunter äußert phantastisch zugeht, darauf liefert bereits der Titel einen Hinweis. Dieser lautet heuer poetische „The Milk of Dreams“ und verweist auf das Werk der surrealistischen Künstlerin Leonora Carrigton, die in ihrem gleichnamigen Buch eine magische, sich ständig in Veränderung befindliche Welt beschreibt – eine Welt, in der sich jeder in alles verwandeln kann.

Dass Veränderung auch bei einer Großveranstaltung wie der Biennale möglich ist, das zeigt dieses Jahr die verstärkte Teilnahme von Künstler*innen weiblichen beziehungsweise mit nicht eindeutig zuordenbarer Geschlechteridentität – zum ersten Mal in der 127-jährigen Geschichte der Biennale ist die deutliche Mehrheit der Teilnehmer*innen nicht eindeutig männlich. Über 150 der eingeladenen Künstler*innen sind zudem zum ersten Mal bei der Biennale vertreten. Viele der Werke wurden eigens für die Biennale angefertigt. Neue zeitgenössische Positionen treten mit älteren in Dialog.

Bereits aus de Jahr 1840 stammt beispielsweise ein Papiermaché-Model vom Atelier Auzoux, das Aletta Jacobs – die erste Frau, die in Dänemark zum Medizinstudium zugelassen wurde und für viele Jahre in den Niederlanden die einzige Ärztin war – als Vorlage für ihre Aufklärungsbücher zum Aufbau und zur Funktionsweise des weiblichen Körpers verwendete. Aus den 1960er Jahren zu sehen ist eine Collage der belgischen Surrealistin Jane Graverol. Während sich die Rolle der Frau bei den meisten ihrer männlichen Kollegen aus dem Kreis der Surrealisten in der eher passiven Rolle der Muse erschöpft, tritt diese bei Graverol in Form einer Sphinx, die es vermag, einzelne Körperteile als Waffen für soziales Empowerment einzusetzen, aktiv in Erscheinung. Beeindruckend sind auch die Arbeiten der 1935 in Lissabon geborenen Künstlerin Paula Rego, die sich in ihrem Werk unter anderem mit politischer Unterdrückung und institutionalisierter Gewalt beschäftigt. Zu sehen sind Malereien, Druckgrafiken und Kleiderpuppen beziehungsweise Skulpturen der Künstlerin.

Generell reicht die Palette der ausgestellten Werke von Malerei und Zeichnung (Birgit Jürgensen und Kiki Kogelnik sind heuer als österreichische Künstlerinnen in der Hauptschau mit Zeichnungen vertreten) über Videoarbeiten bis hin zu raumausfüllenden Installationen. Vor allem letztere verstehen es regelmäßig bei Kunstschauen das Publikum in den Bann zu ziehen. Schmelzendes Eisen, das von der Decke tropft (Arcangelo Sassolino Beitrag für den Malta-Pavillon), alles überwuchernde Pflanzen (Precious Okoyomons „To see the Earth before the End oft he World in „The Milk of Dreams“ im Arsenale) oder mit Erde gestaltete Räume (Delcy Morelos, ebenfalls im Arsenale) sorgen dieses Jahr für Wow-Effekte.

Best of Pavillon

Nicht missen sollte man (vor allem mit Kindern) heuer auch den brasilianischen Pavillon, in dem Jonathas de Andrade Redewendungen wie „Das Herz kommt aus dem Mund“ humorvoll im Raum materialisiert sowie den Schweizer Pavillon, der mit den wunderbaren ephemeren Skulpturen von Lativa Echakhch aufwartet. Ihre Wirkung erzielt die Präsentation unter anderem durch Lichteffekte, die auf einer Komposition des Perkussionisten Alexandre Babel beruhen.
Gänzlich im Mittelpunkt steht die Musik im britischen Pavillon. Die britische afro-karibische Künstlerin und Professorin für Schwarze Kunst und Design an der „University of The Arts“ in London, Sonia Boyce, setzte mit den Raum erfüllenden Stimmen von fünf farbigen Sängerinnen auf die Kraft des weiblichen Gesangs. Im zentralen Part der Präsentation hört/sieht man wie sich die Sängerinnen zum ersten Mal treffen und gemeinsam a Capella performen. Die Arbeit wurde mit dem goldenen Löwen für die beste Länderpräsentation ausgezeichnet.

Der goldene Löwe für die beste Künstlerin ging an Simone Leigh deren Brick House“ (eine Skulptur – zum Teil Frau, zum Teil Haus) die Besucher*innen beim Eingang in die Hauptschau im Arsenale begrüßt. Weitere raumhohe Skulpturen der Künstlerin sind zudem im amerikanischen Pavillon zu bewundern.

Fluides im Österreich-Pavillon

Großformatig in Szene gesetzt nimmt sich dieses Jahr auch der Beitrag für den Österreich-Pavillon aus. Die beiden österreichischen Künstler*innen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl haben den von Josef Hoffmann geplanten und 1934 eröffneten Pavillon in eine Bühne verwandelt, die vom Publikum erkundet werden kann. Titelgebend für die aus großformatigen Malereien, Fotocollagen, Skulpturen und an den 70er-Jahren orientierten Kostüme bestehenden Ausstellungsinszenierung war William S. Burroughs erster Teil der Cut-up-Trilogie „The Soft Machine“. In seinem Roman montiert dieser nicht nur verschiedene Textsorten zu einer Geschichte, sondern lässt verschiedene Welten aufeinandertreffen/verschmelzen. Der Körper erscheint darin als eine weiche Maschine, die von unzähligen Parasiten bevölkert wird. Mit dem Begriff des Cyborgs erhält der Begriff der „Soft Machine“ eine moderne Erweiterung. Damit fügt sich die Präsentation inhaltlich passend in die Hauptschau im Arsenale, die unter anderem mit „The Seduction of the Cyborg“ mit einem Kapitel zu hybriden, um Technologien erweiterte Körpern aufwartet.

Für Knebl, die nach Brigitte Kowanz die Professur für Transmediale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien übernahm, haben alle Menschen fluide Identitäten, das heißt sind im Laufe des Lebens zu zahlreichen Veränderungen fähig. Das Wort „trans“ spielt auch für Ashley Hans Scheirl, der ebenso wie Knebl Interdisziplinär arbeitet, eine entschiedende Rolle. Seine/ihre Kunst beschreibt er/sie als Transgender, Transgenre und Transmedium. Im Zentrum seiner/ihrer aktuellen Arbeit steht die Malerei. Zugleich herrscht eine Dynamik zwischen den Medien. Kunst wird von Scheirl vor allem auch als Mittel zur „Identitätssuche und zum Basteln an sich selbst“ herangezogen. Zur Präsentation im österreichischen Länderpavillon erschienen ist außerdem ein von den Künstler*innen gestaltetes (Hochglanz-)Magazin, das mit Modestrecken (Knebl studierte unter anderem Mode) mit mehreren Texten von Wissenschaftern und Kuratoren aufwartet.

Einen Vor- oder auch Nachgeschmack der Präsentation kann man sich dieses Jahr auch in Wien holen. Zum ersten Mal gibt es mit dem im Mai neu eröffneten „Phileas – A Fund for Contemporary Art“ am Opernring einen Nebenschauplatz zum Österreich-Pavillon. Ziel des Fonds ist es, ausgewählte Projekte, die Phileas auf Biennalen und in Museen weltweit koproduziert, nach Österreich zurückbringen.

La Biennale di Venezia. 59th International Art Exhibition
„The Milk of Dreams “
Noch bis 27. November 2022
Venedig: Giardini / Arsenale sowie an diversen Plätzen der Stadt
Öffnungszeiten: 10.00 – 18.00 Uhr, montags geschlossen
Eintrittspreis regulär: 25 Euro
www.labiennale.org

Invitation of the Soft Machine and Her Angry Body Parts
Österreich-Pavillon in den Giardini
Künstler: Ashley Hans Scheirl und Jakob Lena Knebl
Kuratorin: Karola Kraus
Nähere Information unter: https://www.biennalekneblscheirl.at

Ashley Hans Scheirl and Lena Jakob Knebl im Phileas
6. Mai bis 18. September 2022
Die Ausstellung präsentiert zudem auch Werke von Student*innen an der „Universität für angewandte Kunst (Transmediale Kunst)“ beziehungsweise der „Akademie der bildenden Künste“ Wien (Kontextuelle Malerei).
Opernring 17
1010 Wien
www.phileasprojects.orghttps://www.biennalekneblscheirl.at/

Geschrieben von Sandra Schäfer